Niemand, der sich mit SEO beschäftigt, scheint auch nur jemals einen Hauch des Zweifels gehabt zu haben, dass es so etwas wie Linkjuice gibt. Die Idee, ja die bloße Selbstverständlichkeit, wird schließlich von tausenden SEOs vorgebetet. Dann muss es schließlich wahr sein. Es hat beinahe den Beigeschmack eines Sakrilegs, auch nur an Zweifel zu denken. Und genau darum stelle ich diese Frage, da ich mit so etwas wie BlaSEOphemie glücklicherweise kein Problem habe.
Die Frage nach dem Verweissaft
Wer sich einmal die Mühe macht und Suchanfragen wie „Linkjuice existiert nicht“ oder „Link juice doesn’t exist“ abschickt, wird nur äußerst wenige relevante Treffer finden. Tatsächlich ist unter all den Artikeln über Sinn, Weitergabe und Optimierung des Linkjuice lediglich der Artikel „Link Juice est Mort“ zu finden. Woran liegt das eigentlich? Niemand scheint dieses Modell tatsächlich auch nur im Ansatz in Zweifel zu ziehen.
Das Konzept, dass Links irgendetwas weitergeben, hat sich über die Jahre so sehr in die Köpfe der SEOs eingebrannt, dass diese Idee kaum noch zu tilgen ist. Ich zweifle ja nicht nicht einmal an, dass Links etwas – nun ja – signalisieren. Allerdings halte ich das Gedankenmodell, welches dem Begriff des Linkjuice zugrunde liegt, für kompletten Unsinn – genau wie die Bezeichnung. Von den Auswüchsen wie „PageRank weitergeben“ und „Linkjuice auf der Seite halten“ rede ich hier noch nicht einmal.
Seit Linkjuice ist Geiz wieder geil
Die Idee der Weitergabe von irgendeinem Saft von einer Seite zur anderen brachte natürlich auch den fatalen Umkehrschluss mit sich, dass es besser ist, wenn ein Dokument nur wenige Links zu anderen Dokumenten besitzt. Zu viele Links – so die These – würden ja den ganzen schönen Saft unter sich aufteilen und die verlinkten Dokumente somit immer weniger davon erhalten. Wenn man schon entsaftet, dann bitte sparsam.
Selbstverständlich ging die SEO-Welt dann noch einen Schritt weiter und nahm dem Web das, was seinen ureigensten Charakter begründet: externe Links. Wenn jeder Link diesen Verweissaft weitergibt, dann doch bitte nicht an eine andere Website. Diese andere Seite kann zwar thematisch der Knaller sein, aber wo kämen wir denn hin, wenn wir unseren mühsam gesammelten Verweissaft einfach so versaften … ähm … verschenken?
Und so entwickelte sich eine Linksparsamkeit nach dem Motto „Geiz ist geil“. Jeder SEO (und Webmaster) war darauf bedacht, nur wenige interne Links zu verwenden und auf gar keinen Fall von der Website weg zu linken. Aus Sicht der Nutzer und für die philosophische Grundlage des Web schlicht eine Katastrophe.
Was ist Linkjuice denn überhaupt?
Eigentlich handelt es sich dabei lediglich um ein Gedankenmodell. Dieses Modell besagt, dass eine Seite A an jede verlinkte Seite eine bestimmte Kraft weitergibt. Die 100% Linkkraft, die dabei weitergegeben werden, teilen sich durch die Anzahl der verlinkten Seiten. Bei vier verlinkten Dokumenten wird also jeweils 1/4 dieser Kraft weitergegeben, bei 10 Links nur noch jeweils 1/10. Oftmals wird in diesem Zusammenhang das Bildnis einer Kaskade aus Wassereimern benutzt. Diese sind fein säuberlich in einer Pyramide übereinander gestapelt und mit Löchern versehen. Das Wasser fließt also aus jedem oben stehenden Eimer in die darunter stehenden.
Der Gedanke dahinter ist, dass der oberste Eimer (= die Startseite oder Hauptseite) die größte Menge an Linkkraft besitzt. Diese wird nun an die darunter stehenden Eimer (= verlinkte Dokumente) in gleichen Teilen weitergegeben. Diese geben nur ihrerseits Linkkraft an die unter ihnen stehenden Eimer zu gleichen Teilen weiter. Und wirklich kaum jemand registriert die Unzulänglichkeiten dieses Modells.
Der oberste Eimer wird irgendwann leer sein, weil alles Wasser in die beiden darunter liegenden abgeflossen ist. Diese beiden werden jedoch früher oder später ebenfalls leer sein, denn das Wasser fließt weiter. Am Ende werden nur noch die Eimer ganz unten Wasser enthalten, der Schwerkraft sei Dank. Natürlich steht das Wasser nur sinnbildlich für die Aufteilung der Linkkraft. Dennoch zeigen sich hier bereits einige Schwächen.
Kurze Pfade für saftige Links
Als Folgerung aus diesem Ansatz können wir natürlich die Regel betrachten, dass eine Seite unter einer möglichst kurzen URL erreichbar sein sollte. Denn wenige Ebenen bedeuten mehr von dem kostbaren Saft. Schließlich sollen die Eimer, die weiter oben stehen, mehr Saft bekommen als diejenigen, die ganz unten in der Pyramide ihr Dasein fristen.
Was geschieht jedoch, wenn wir auf einer Website mit acht Hierarchieebenen ein Dokument der untersten Ebene von der Startseite aus verlinken? Dann wäre zwar die URL unerträglich lang, aber der Eimer würde plötzlich ganz weit oben stehen.
Nach diesem Modell sollte also jede sauber optimierte Website von ihrer Startseite ausschließlich auf die zweite Ebene verlinken, von dieser zweiten Ebene ausschließlich auf die dritte u.s.w.. Bei wie vielen Seiten ist das wirklich realisiert? Genau! Und weil das eben bei sehr wenigen Websites der Fall sein dürfte, lässt dies den Schluss zu, dass eine URL-Hierarchie – wenn überhaupt – nur eine geringe Auswirkung auf die Bewertung durch eine Suchmaschine besitzt. Und in der Tat hat Googles Johannes Müller bestätigt, dass die Hierarchien in URLs nur wenig Bedeutung besitzen.
Was ist an dem Wassereimer-Modell auszusetzen?
Stellen wir uns einmal vor, wir haben eine Hauptseite, die sich um das Thema „Äpfel“ dreht. Diese besitzt genau zwei Links auf Unterseiten. Die erste Unterseite beschäftigt sich mit „Anbau von Äpfeln“ und die zweite mit „Informationen über Apfelsorten“. Sieht auf den ersten Blick hübsch aus und thematisch relevant sind die Seiten zueinander auch noch.
Bei dieser Konstellation darf man mit Fug und Recht behaupten, dass hier Linkkraft weitergegeben wird. Was wir jedoch erst einmal nicht wissen:
- Wie sieht das Hauptdokument inhaltlich aus?
- Wie sehen die Inhalte der Unterseiten aus?
- Mit welchen Ankertexten werden die Unterseiten verlinkt?
- Wie sieht der Kontext der Links aus?
Bevor wir diese wichtigen Fragen nicht geklärt haben, geben wir erst einmal gar nichts weiter – weder Linkjuice noch sonst etwas. Das Modell der kaskadierenden Wassereimer berücksichtigt überhaupt nicht, wie Links aussehen und wo sie herkommen. Alle Links sind gleich. Und dass dies mit der Realität nicht das Geringste zu tun hat, dürfte mittlerweile überall angekommen sein.
Welche Rolle spielen Ankertexte?
Fangen wir an, ein wenig Linkjuice zu vererben. Dazu nehmen wir uns das Beispiel weiter oben und setzen unsere Links ins Hauptdokument. Auf die Unterseite über den „Anbau von Äpfeln“ verlinken wir mit dem Ankertext „Anbau von Äpfeln“. Soweit, so praktisch.
Das zweite Dokument mit den „Informationen über Apfelsorten“ verlinken wir hingegen mit dem Anker „Reifenwechseln für Anfänger“. Lassen wir die Sinnhaftigkeit einer solchen Verlinkung einmal außer Acht, muss die Frage erlaubt sein, wieso diese beiden Links nun gleich viel Kraft weitergeben sollten.
Der Ankertext des ersten Links steht nicht nur in direktem thematischen Zusammenhang mit dem Zieldokument, sondern wiederholt auch noch dessen Titel (hierzu empfehle ich auch den Artikel „Interne Verlinkung und Relevanz – Ein Gedankenspiel„). Der zweite Link hingegen hat mit dem Inhalt des Zieldokuments gar nichts zu tun. In einem solchen Fall sollte also das rechte Loch im Eimer weitestgehend verstopft sein.
Daraus ergeben sich zwingend folgende Fragen:
- Wie können zwei Links die gleiche Kraft weitergeben, wenn die Zielseiten und somit die verlinkten Inhalte unterschiedlich sind?
- Wie können zwei Links die gleiche Kraft weitergeben, wenn sie unterschiedlich aufgebaut sind (z.B. Ankertexte mit 1 Wort und mit 5 Worten)?
- Warum sollte ein Link irgendetwas weitergeben, wenn er mit Quellseite und Zielseite nichts zu tun hat?
- Wieso verlinken manche Seiten mit Schlagworten auf die Startseite, wenn diese doch als stärkste Seite ihren Linkjuice nach unten abgibt?
Insbesondere die letzte Frage sollte eigentlich bei allen „Optis“ auftauchen, wenn diese mal wieder eine wilde Verlinkung von einer Unterseite auf die Hauptseite realisieren. Unter der Prämisse, dass es Linkjuice gibt, ist dieses Vorgehen vollkommen absurd. Warum will jemand die Kraft, die eine Unterseite erhält, wieder an die Hauptseite zurückgeben, damit diese die Linkkraft wieder an die Unterseite zurückgibt, die wiederum die Kraft an die Hauptseite …
Es bleibt zu hoffen, dass Start- und Unterseite in diesem Falle thematisch rein gar nichts miteinander zu tun haben, um wenigstens den Unsinn so gut wie möglich zu optimieren. Herzlich willkommen bei SEO aus dem Jahre 2012.
Die drei Faktoren guter (interner) Links
Zurück in das Hier und Jetzt. Grundsätzlich ist es vollkommen gleichgültig, ob wir einen Backlink von außen betrachten oder einen internen Link. Für jeden dieser Links gelten drei prinzipielle Faktoren, die für die qualitative Bewertung eines Links verantwortlich sind:
- Der Text bzw. Kontext, in welchem der Link im Quelldokument untergebracht ist
- Der Ankertext des Links relativ zur Quelle und zum Ziel
- Der Inhalt des Zieldokuments
Dazu gesellen sich natürlich auch noch die Eigenschaften der Website, von der verlinkt wird und die Eigenschaften des Dokuments, auf welches der Link zeigt.
Es gibt keine zwei gleichen Links
Gehen wir davon aus, dass es eine Art Bewertungssystem gibt, welches aus einer bestimmten Anzahl von Werten eine Gesamtbewertung ermittelt, kann es keine zwei Links geben, die exakt die gleichen Wertigkeiten aufweisen. Dies wird mit steigender Zahl der Faktoren immer unwahrscheinlicher. Betrachten wir die oben genannten Eigenschaften eines Links und zusätzlich noch die Eigenschaften der Quell- und Zielseite, erhalten wir derartig viele mögliche Kombinationen, dass eine absolute Gleichheit nahezu ausgeschlossen ist.
Selbst zwei identische Ankertexte auf das selbe Dokument ergeben keine zwei gleichwertigen Links, weil schon der Kontext der beiden Links ein anderer sein wird. Umgekehrt sind auch zwei Links auf verschiedene Dokumente aus dem selben Absatz heraus nicht gleichwertig, da sich die Zieldokumente todsicher unterscheiden werden und allein die thematische Relevanz zum Quelldokument eine andere sein wird.
Diese Annahme lässt im Grunde nur einen Schluss zu:
Die Relevanz entscheidet über einen Link
Entfernen wir uns von dem Modell, welches besagt, dass auch die allerletzte Seite auf der niedrigsten Ebene durch entsprechendes Verlinken etwas vom großen Kuchen (genannt Startseite) abbekommt. Betrachten wir die Linkkraft von einer anderen Warte aus, und zwar vom Standpunkt der Relevanz.
Diese Betrachtungsweise schränkt die gesamte Sicht auf eine 1:1-Beziehung ein, nämlich die Verknüpfung von Quelle und Ziel. Bindeglied ist der Link. Hier wird nichts übertragen, vererbt oder weitergegeben. Entweder gibt es eine starke Relevanzbeziehung oder eine schwache. Und wenn der SEO wirklichen Unsinn gemacht hat, gibt es gar keine. Aber lassen wir diesen absolut undenkbaren Sonderfall einmal außer Acht.
Starke und schwache Relevanzbeziehungen
Nehmen wir noch einmal das Apfel-Beispiel von oben zur Hand. Der Link auf der linken Seite zeigt mit dem Ankertext „Anbau von Äpfeln“ auf ein Zieldokument mit dem Titel „Anbau von Äpfeln“. Der Anker hat also eindeutig einen starken thematischen Bezug zum Zieldokument. Und weil wir nicht hoffen wollen, dass es in dem Dokument um eine von heimischen Früchten vollführte bauliche Erweiterung geht, können wir ziemlich sicher von einer starken Relevanzbeziehung sprechen.
Hier passt alles. Für eine vollständige Bewertung müssen nun noch die tatsächlichen Inhalte der Dokumente analysiert werden. Ist beispielsweise das Zieldokument wirklich so umfassend und beantwortet es detailliert Fragen? Stimmt der Kontext des Links im Quelldokument oder ist der Satz lediglich eingestreut? Aber belassen wir es der Einfachheit halber erst einmal dabei.
Betrachten wir nun einmal dieses Beispiel. Der Ankertext verändert sich, während alles andere gleich bleibt. Wir haben nun noch eine recht ordentliche Relevanz des Ankertextes zum Quelldokument, jedoch nur noch eine geringe zum Zieldokument. Auch wenn es sich bei dem Ziel um einen Ratgeber handelt, ist der Linktext doch ein wenig „dünn“. Darum sind aussagekräftige Linktexte das A und O einer guten Verlinkung.
Jetzt stellt sich die Frage:
wenn aus dem Zieldokument (2) auf ein weiteres Dokument (3) verlinkt wird, welche Kraft erhält dieses dritte Dokument von unserer Äpfel-Ausgangsseite (1)?
Die Antwort ist einfach: keine. Warum sollte das auch der Fall sein? Zum einen besteht aller Wahrscheinlichkeit nach kein thematischer Zusammenhang zwischen diesen Dokumenten. Zum anderen spielt das auch keine Rolle, denn es gibt keine Beziehung zwischen diesen Dokumenten. Für dieses dritte Dokument spielt ausschließlich eine Rolle, wie es vom zweiten Dokument verlinkt wird (und von einigen anderen eventuell auch noch. Allein aus diesen Gründen habe ich ernsthafte Zweifel daran, dass das Gedankenmodell des Linkjuice zutreffend ist.
Und was passiert, wenn ein Dokument mehr als eine Verlinkung aufweist?
Die klassische „Lehre“ verlangt, dass jeder der Links nun 50% der gesamten Linkkraft an die nachfolgenden Dokumente abgibt. Aber aus dem oben gesagten folgt die Frage: warum sollte das der Fall sein?
Die Relevanzbeziehungen zwischen dem Quelldokument und den jeweiligen Zieldokumenten sind unterschiedlich. Ebenso handelt es sich bei den Linktexten selbst um vollkommen unterschiedliche Dinge. Hier kann schlicht nicht die gleiche Menge von irgendetwas weitergegeben werden. Um es genauer zu sagen: hier wird – wie in den Beispielen weiter oben – überhaupt nichts „vererbt“. Auch hier besteht lediglich eine semantische Beziehung zwischen den Dokumenten mit dem jeweiligen Link als Bindeglied. Die Vorstellung vom fließenden Linkjuice ist vollkommen entbehrlich.
Links sind keine Einbahnstrasse
Die Physik kennt ein fundamentales Gesetz: wirkt eine Kraft in eine Richtung, so wirkt auch stets eine Gegenkraft in die entgegengesetzte Richtung. Eingefleischte SEOs werden nun natürlich das Wort „Blödsinn“ im Kopf haben. Dennoch gebe ich zu bedenken, dass Wasser auch manchmal rückwärts fließen kann. Oder – um es auf Links zu übertragen – anders ausgedrückt: von einer starken Verlinkung profitiert nicht nur das Ziel, sondern auch die Quelle. Allerdings ist dieser Sachverhalt schon seit geraumer Zeit bekannt. Und genau aus diesem Grunde ist es kaum nachvollziehbar, dass es immer noch SEOs gibt, die mit Verlinkungen derart sparsam umgehen.
Fazit: Linkjuice ist nicht mehr zeitgemäß
In Zeiten von semantischer Suchmaschinenoptimierung und der inhaltlichen Bewertung von Dokumenten durch die Suchmaschinen ist die Vorstellung von einer Vererbung von Linkjuice aus meiner Sicht nicht mehr aktuell. Vielmehr geht es um die Relevanzbeziehungen der Dokumente untereinander. Je stärker diese Beziehungen sind, umso mehr profitieren die verbundenen Dokumente davon.
Starke Relevanzbeziehungen lassen sich durch thematisch zusammenhängende Dokumente erreichen, die mit Hilfe von aussagekräftigen und ebenfalls thematisch passenden Linktexten unterstützt werden. Es spielt auch keine Rolle, wie viele Links von einem Dokument ausgehen, da jeder einzelne Link sowie die daraus entstehende Beziehung der so verbundenen Dokumente für sich allein bewertet werden kann. Eine Aufteilung irgendeiner mysteriösen Linkkraft auf die einzelnen Links ist somit ebenso entbehrlich.
Natürlich ist auch dieser Ansatz nur ein Gedankenmodell. Darum freue ich mich auf jeden Kommentar zu diesem Thema und vielleicht auch die ein oder andere spannende Diskussion.